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“Migration wird das Thema der Zukunft sein“ - Talk mit Lale Akgün


 Hans Mörtter, Lale Akgün und Ahmet Akgün / Foto Lothar Wages
Hans Mörtter, Lale Akgün und Ahmet Akgün / Foto Lothar Wages

Die SPD-Politikerin Frau Dr. Lale Akgün wurde 1952 in Istanbul geboren und migrierte im Alter von neun Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. In Marburg an der Lahn studierte sie Medizin und Psychologie und arbeitete später im Landeszentrum für Zuwanderung in NRW. 1980 nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an und trat zwei Jahre später in die SPD ein. Sie war von 2002 bis 2009 Mitglied im Deutschen Bundestag und Stellvertretende Europa- und migrationspolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Heute arbeitet sie in der Staatskanzlei Düsseldorf, wo sie in der Gruppe "Internationale Angelegenheiten und Eine-Welt-Politik" ein vielfältiges Betätigungsfeld hat. Sie ist Autorin mehrerer Bücher. 

von
Helga Fitzner redigiert

Hans Mörtter: 1962 bist du im Alter von neun Jahren nach Deutschland gekommen. Dein Vater war Zahnarzt und wollte hier für zwei Jahre arbeiten, während deine Mutter Istanbul nicht verlassen wollte. Deine Mutter gab nach und ihr seid dann hier geblieben. Was waren deine ersten Eindrücke in Deutschland?  

Lale Akgün: Was mich am allermeisten beeindruckt hat und was ich immer noch sehr, sehr schätze, sind die verschiedenen Jahreszeiten. Ich habe die ersten neun Jahre meines Lebens in einem mediterranen Land verbracht, habe also diesen jahreszeitlichen Übergang des Herbstes hier, die Verfärbung der Bäume noch nicht gekannt. In Istanbul ist es entweder heiß oder es regnet. So ein bunter Herbst war für mich das Sinnlichste an Veränderung, was ich erlebt habe und ich genieße das heute noch.  

Hans Mörtter: Deine Familie kam aus der Weltstadt Istanbul aufs „platte Land“ nach Moers. War dieser Transfer für dich damals ein Kulturschock?  

Lale Akgün: Kulturschock kann man nicht sagen, den erlebt ein Mensch nur, wenn er das Gefühl hat, dass sein Wertesystem nicht mehr stimmig ist. Das war bei mir damals nicht der Fall. Später arbeitete ich jahrelang als Therapeutin in sozialen Brennpunkten hier in Köln. Da habe ich diesen Kulturschock gespürt, weil ich dort Menschen begegnet bin, deren Wertesystem nicht mehr stimmte. Die hatten das Gefühl, im falschen Film zu sein, weil ihr Leben nicht mehr stimmig war und sie das nicht aushielten. Man muss nicht unbedingt auswandern, um einen Kulturschock zu erleben.  

Hans Mörtter: Ihr musstet damals erst einmal die deutsche Sprache lernen.  

Lale Akgün: Ja, das größte Problem war am Anfang natürlich die Sprache. Das war die ersten Monate relativ anstrengend, solange ich mich in der Schule noch nicht verständigen konnte. Damals war die Sprachschulung für Ausländer*innen auch nicht beabsichtigt. Wir haben uns selbst um Privatunterricht gekümmert.  

Hans Mörtter: Du hast die deutsche Sprache dann hervorragend gelernt und dich in der Schule gut durchsetzen können. Du hast dich sogar mit Jungs angelegt.  

Lale Akgün: Ich hatte schon immer Temperament und ein gutes Selbstvertrauen. Das ist eine gute Basis, wenn man als Migrantin in ein fremdes Land kommt. Als Neunjährige haben mich gleichaltrige Jungs einmal angemacht und da ich mich verbal noch nicht wehren konnte, habe ich zugeschlagen.  

Hans Mörtter: Deswegen haben dann später im Bundestag wahrscheinlich alle Männer vor dir Respekt gehabt?  

Lale Akgün: Ich habe im Bundestag niemanden körperlich angegriffen, denn da war ich inzwischen in der Lage, verbal anzugreifen. Das ist der Vorteil, wenn man die Sprache beherrscht. Mit neun Jahren war das anders, heute kann ich Menschen verbal in ihre Schranken weisen. Das ist eindeutig besser.  

Hans Mörtter: Deine Familie ist ein typisches Beispiel dafür, dass man in verschiedenen Ländern dieser Erde zu Hause sein und doch eine Familie bleiben kann.  

Lale Akgün: In dieser Spannung zwischen dem Globalen und Lokalen wird sich unsere Zukunft insgesamt darstellen. Für mich sind die alltäglichen lokalen Kontakte ganz wichtig, man muss aber auch wissen, dass wir global ganz viele Gemeinsamkeiten haben mit Menschen, die ganz ähnlich fühlen und agieren wie wir. Deswegen finde ich die globale Kommunikation so wichtig. Wir müssen einander besser kennenlernen, nicht pauschal als Teil einer Gruppe, sondern als Individuen. Migration wird das Thema der Zukunft sein, es werden noch viel mehr Menschen von dort weggehen, wo sie leben; solange wir dieses Gefälle von arm und reich haben, werden sich die Menschen aus den armen Ländern immer in die Richtung der reichen Länder bewegen, um für sich und ihre Kinder eine bessere Perspektive zu haben. Also kommt die Frage auf, wie wir Einwanderungspolitik und Entwicklungspolitik miteinander vernetzen. Und wir müssen eine Antwort finden auf die Frage, wie wir eine gerechtere Welt schaffen können. 

 

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Lale Akgün und Hans Mörtter beim Talk / Foto Lothar Wages

 

Hans Mörtter: Du beschreibst in deinem Buch so schön, wie du mit neun Jahren schon beschlossen hattest, dass die deutsche Weihnachtstradition in eure Familienkultur integriert werden muss – weil man sich etwas wünschen kann und nicht einfach nur etwas geschenkt bekommt. Du bist dann noch weiter gegangen und hast auch den Nikolaus, das Christkind, den Osterhasen, St. Martin, eigentlich alles, was es hier an christlich behafteten Festen gibt, „adoptiert“.  

Lale Akgün: Wenn man irgendwo lebt, muss man nicht nur hinkommen, sondern ankommen, und ankommen heißt, in Kommunikation treten mit den Menschen. Ohne Kommunikation entstehen Parallelgesellschaften. Also habe ich darüber nachgedacht, was diese christlichen Feiertage bedeuten und ob ich als Muslimin da mitmachen kann. Die Frage stellte sich besonders, als meine Tochter in den Kindergarten kam. Da gibt es viele attraktive Feste: das Verkleiden zu Karneval, das Verstecken und Finden von Ostereiern oder Sankt Martin und Nikolaus, die die Güte in Person waren und sinnlich erlebbar machten, was Teilen bedeutet. Warum soll man ein Kind davon isolieren, warum soll man sich selbst davon isolieren?  

Hans Mörtter: Du bist Türkin, Lale, und du bist Deutsche. Du bezeichnest dich selbst als „Kulturtürkin“ und bist der Meinung, dass gelebte Bi-Kulturalität ein doppeltes Potenzial habe.  

Lale Akgün: Ich finde es eigentlich sehr, sehr einschränkend, wenn man sich nur über die Staatsangehörigkeit oder die ethnische Zugehörigkeit definiert. Ich bin Türkin, ich bin Deutsche, ich bin Frau, ich bin Ehefrau, ich bin Mutter, ich bin Psychologin, ich bin Politikerin, ich bin Opernliebhaberin, Krimileserin, schlechte Köchin, schlechte Hausfrau. Das alles macht meine Persönlichkeit aus. Bei meiner Arbeit in sozialen Brennpunkten in Köln bin ich jungen Leuten begegnet, die sich äußerlich perfekt angepasst und sogar ihren türkischen Namen geändert haben. Wenn einer Can hieß, dann war der auf einmal Johnny. Andere haben es kultiviert, türkisch auszusehen, haben sich einen Schnurrbart wachsen lassen und Klamotten angezogen, die für die Augen des Betrachters völlig türkisch aussehen. Es ist gut, dass wir diese Bandbreite haben und ich finde es nicht in Ordnung, wenn von außen durch Familie und Gesellschaft Druck ausgeübt wird. Das kann ich nicht akzeptieren, dafür bin ich zu sehr Therapeutin. Wir müssen jede Lebensform akzeptieren, solange diese Lebensform nicht die anderen stört und sich an die Rechtmäßigkeiten des Landes anpasst. Wir sollten aufhören, Menschen immer in Schablonen pressen zu wollen und in Schubladen zu stecken, denn die sind furchtbar eng und werden dem Menschen als Individuum nicht gerecht.  

Hans Mörtter: Wie würdest du den Begriff Heimat definieren?  

Lale Akgün: Heimat ist da, wo ich gerne lebe, wo ich meine Bezüge habe, wo ich meine Kontakte habe, wo ich das Gefühl habe, akzeptiert und angenommen zu sein. Es gibt so eine wunderbare Definition: Wenn ich morgens mit dem stimmigen Gefühl aufwache, ich liege in der richtigen Stadt im richtigen Bett, und es wartet im großen und ganzen der richtige Tag auf mich, dann ist das Heimat.

„Es muss knirschen“

Hans Mörtter: Es gab einen großen Einschnitt in deinem Familienleben, als du 2002 in den Bundestag eingezogen und sieben Jahre in Berlin geblieben bist. Welche Erwartungen, welchen Anspruch hattest du, und wie hielt das der Wirklichkeit stand?  

Lale Akgün: Anke Fuchs hat 2001 hier für den Kölner Südwesten aufgehört und ich sollte für ihren Wahlkreis kandidieren. Ich habe mir das nicht leicht gemacht, weil ich wusste, die Entscheidung für den Bundestag ist eine Entscheidung gegen Familie, gegen Freunde, gegen Privatleben. So war es dann auch sieben Jahre lang. Es ging dabei nicht nur darum, den Wahlkreis zu gewinnen, mein Mann Ahmet unterstützte mich sehr und sagte: „Wir müssen einfach ein Zeichen setzen, du musst ein Zeichen setzen und als Frau mit türkischem Namen kandidieren.“ Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten, der direkt gewählt worden war. Die wenigen, die es gab, kamen alle über einen Listenplatz. Wir wollten ausprobieren, ob es möglich ist, in diesem Land, in dieser Stadt, mit einem türkischem Namen auf den Plakaten zu kandidieren und einfach akzeptiert zu werden. Ich hatte bei allen drei Wahlen, zu denen ich angetreten bin, 10 bis 12 % mehr Stimmen auf mich vereint, als meine Partei bekommen hat. Auch bei der Wahl 2009, die wir verloren haben.  

Hans Mörtter: Wie bist du mit den gewonnen Wahlen umgegangen?  

Lale Akgün: Stadtsoziologisch gesehen und auch in Bezug auf die moderne Gesellschaft, auf die neue Gesellschaft war das natürlich eine wunderbare Geschichte. Aber ich habe das als eine Art Hypothek gesehen. Ich habe in den Jahren als Bundestagsabgeordnete wirklich versucht, dieser Hypothek gerecht zu werden, also eine Politik zu machen, die meiner Überzeugung nach richtig war, aber auch im Großen und Ganzen die Meinung meiner Wählerinnen und Wähler widerspiegelt. Wenn man direkt gewählt ist, muss man das schon sehr ernst nehmen. Ich bin jetzt im Nachhinein sehr froh, dass ich immer so abgestimmt habe, wie es für mich richtig war, und dass ich mich nicht von der Fraktionsmeinung habe klein kriegen lassen. Das habe ich auch bei so sensiblen Bereichen wie Afghanistan gemacht und freue mich diebisch, dass heute viele die Meinung vertreten, für die ich mich vor drei Jahren schon entschieden habe. Das zeigt ja, dass es richtig war.  

Hans Mörtter: Es ist nur fatal, dass diese drei Jahre Krieg dazwischen liegen.  

Lale Akgün: Es ist fatal, es kostet jeden Tag Menschenleben, es wird nicht besser. Es wird auch nicht so schnell möglich sein, da herauszugehen, weil jeder Tag, den man länger in Afghanistan ist, die Verhältnisse zementiert.  

Hans Mörtter: Die Akzeptanz von Autoritäten ist beim Berufsprofil eines Politikers und einer Politikerin eine der wichtigsten persönlichen Voraussetzungen: unbedingter Gehorsam, kein Widerspruch. Du bist aber ein Mensch mit einem klar denkenden Gehirn und warst diesen Zwängen zu einem Teil ja doch unterworfen.  

Lale Akgün: Das war schon schwierig für mich. Ich bin auch immer dünner geworden. Dieses Denken in bestimmten Kategorien ist schon sehr anstrengend und lässt wenig Raum für Individualität in der Politik. Ich hatte aber das Glück, dass ich direkt gewählt wurde und direkt gewählte Abgeordnete haben einfach mehr Spielräume; wenn sie sie nutzen. Es hat aber auch immer was mit der Person zu tun, ob jemand sich den zivilen Ungehorsam innerhalb der Fraktion bewahrt und sich eine eigene Sicht der Dinge erlaubt. Zum Beispiel waren die Hartz-IV-Gesetze damals kein Wunschkonzert für Sozialdemokrat*innen. Da ist es einigen sehr schwer gefallen zuzustimmen. Noch mehr Schwierigkeiten hat es den Genoss*innen dann bereitet, als nachher vieles zurückgenommen wurde. Die fragten sich nun, wie sie das den Leuten in ihrem Wahlkreis erklären sollten.  

Hans Mörtter: Ich würde sagen, Politik in unserer Gesellschaft braucht Menschen wie dich, die auch mal Ärger machen, weil sich sonst nichts bewegt.  

Lale Akgün: Danke schön!
 Aber ich war nicht nur Alleintänzer, ich habe nicht nur als Lale Akgün im Bundestag gesessen, sondern eben doch als Fraktionsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion. Die Sozialdemokratie ist und bleibt meine politische Heimat, auch wenn ich bei der praktischen Umsetzung mit einigen Dingen nicht einverstanden war. Bei der letzten Gesundheitsreform wollte ich dagegen stimmen. Da riet mir ein ausgeschiedener, alter Genosse: „Hör mal, es ist ein Krankenkassengesetz, und glaube mir, dieses Gesetz wird sowieso nur zwei Jahre halten, also stimme zu, damit du nicht noch mehr Ärger bekommst, als du ohnehin schon hast.“  

Hans Mörtter: Es heißt aber, der Sand im Getriebe muss knirschen, weil wir sonst ersticken.  

Lale Akgün: Es muss knirschen, und ich muss zugeben, dass mir richtig das Herz aufgeht, wenn ich an die Proteste wegen Stuttgart 21 denke. Da freue ich mich wirklich, dass Menschen aufstehen und sagen: „Ich habe zwar meinen Abgeordneten gewählt, aber in diesem Fall kümmere ich mich jetzt selbst darum.“ Das ist eine ganz wichtige Geschichte. Wir haben hier in Köln so eine ähnliche Sache beim Godorfer Hafen erlebt.



„Die Desintegrierten werden Deutschland nicht verlassen“



Hans Mörtter: Du warst im Bundestag Stellvertretende Europa- und migrationspolitische Sprecherin und Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Welche Erfahrungen in Sachen Integrationspolitik hast du da gewonnen?  

Lale Akgün: Wir hatten in Deutschland nie eine „Normalverteilung“ an Zuwanderung gehabt. Als das in den frühen 60-er Jahren anfing, hat kein Mensch über Integration nachgedacht. Die Wirtschaft brauchte für eine passagere Zeit ungelernte Gastarbeiter. Was wir heute erleben an Problemen mit den Migrant*innen, ist die natürliche Konsequenz der damaligen Politik. Wer ungelernte Arbeiter anwirbt, und nichts für ihre Integration in die Gesellschaft tut, darf 40 Jahre später nicht lamentieren, er hätte es mit hartnäckigen Integrationsverweigerern zu tun. Das ist scheinheilig! Warum haben wir in Berlin Probleme im Stadtteil Neukölln und nicht in Dahlem? In Dahlem wohnen furchtbar viele Ausländer*innen, aus Dutzenden von Ländern, weil die ganzen Botschaften ihre Residenzen dort haben. Wenn die ethnische Zugehörigkeit das Problem wäre, müsste in Dahlem richtig die Post abgehen. Aber in Dahlem ist gar nichts los, während in Neukölln die Post abgeht. Es kann nicht allein an der Herkunft liegen, da muss wirklich noch mehr dazukommen.  Hans Mörtter: Da spielen soziale Herkunft, mangelnder Spracherwerb und fehlende berufliche Perspektiven eine Rolle.  

Lale Akgün: Ja, ich sage das noch einmal ganz deutlich: Niemand soll so tun, als wären in den 1960-er Jahren die Ausländer vom Himmel gefallen. Es war Politik, man brauchte ungelernte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für bestimmte Arbeitsplätze, und die hat man auch angeworben. Akademiker hätte man gar nicht haben wollen. Man hat ernsthaft geglaubt, dass die irgendwann nach Hause zurückkehren, vor allem als viele Arbeitsplätze wieder wegfielen. Das sind sie natürlich nicht. Deswegen ist Berlin ein besonders problematischer Ort. Da sind massenhaft Industriearbeitsplätze weggefallen, wodurch die Arbeitslosigkeit dort besonders hoch ist. Berlin lebt heute von Politik und Tourismus. Man hat sich auch nie darüber Gedanken gemacht, wie man Unterschichteinwanderer*innen den Weg in den Aufstieg weisen könnte.  

Hans Mörtter: Da gibt es noch viel zu tun.  

Lale Akgün: Auf jeden Fall. Aber dafür, dass so wenig gemacht worden ist, hat sich die Gesellschaft supergut integriert. Wir haben heute eine viel bessere soziale Integration in Deutschland, als die Niederlande, Großbritannien, Schweden oder Frankreich. Viel besser! Das wird leider nie gesagt. Ich mache Angela Merkel und Maria Böhmer, der Integrationsbeauftragte der CDU, schwere Vorwürfe, weil die sich hinstellen und sagen: „Wir haben 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, meine Damen und Herren, und die müssen wir alle integrieren.“ Also ich will mir nicht vorstellen, wie Deutschland aussehen würde, wenn wir 16 Millionen Desintegrierte hätten. So zu tun, als ob jede/r Migrant*in automatisch desintegriert wäre, ist eine Unterstellung, die bei der Mehrheitsgesellschaft Ängste auslöst, Ängste von Ausbeutung, Nutzung sozialer Ressourcen und so weiter, und – die bei den Migrant*innen Kränkung hervorruft. Ich habe mich tatsächlich einmal hingestellt und gesagt: „Frau Kanzlerin, mich müssen sie nicht integrieren, dann haben Sie ein Problem weniger.“  

Hans Mörtter: Du magst auch keine „Folklore“ in der Integrationspolitik.  

Lale Akgün: Die Integrationspolitik, die auf Folklorebasis betrieben wird, ist mir zutiefst zuwider. Da gibt es Fotos mit Frau Merkel in der Mitte umrahmt von Menschen afrikanischer Herkunft in ihren Trachten, und dann Türken, Araber und Chinesen. Es sieht aus wie eine Karnevalsfeier. Fehlt nur noch ein Indianer, aber wahrscheinlich wollte keiner ein Indianerkostüm anziehen. Das ist keine Integrationspolitik. Wenn ich das sehe, schwillt mir der Hals zu. Viele junge Migrant*innen verlassen Deutschland, weil sie das Gefühl haben, hier nicht akzeptiert zu werden und keine Aufstiegschancen zu haben, egal, ob sie studiert haben oder nicht. Dadurch marschiert man auf eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu, dass Migrant*innen schwer bis gar nicht zu integrieren sind oder sich gar nicht integrieren wollen. Wir verlieren die gut Integrierten, die zurück in die Heimat ihrer Eltern, in die USA und andere Länder abwandern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die angloamerikanischen Länder im Jahr ca. 1,8 Millionen gut ausgebildete Migrant*innen brauchen. Die bekommen sie auch, weil die Sprache einfach ist und sie eine Willkommenskultur haben. Wenn aber die gut Integrierten Deutschland verlassen, und die weniger Integrierten da bleiben, dann hat man die Bestätigung für die Annahme, die in diesem Land vorherrscht, dass nämlich Migrant*innen eben immer Problemgruppen angehören.  

 

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Lale Akgün / Foto Lothar Wages

 

Hans Mörtter: Heute wandern mehr Menschen aus Deutschland aus, als zuwandern. Es gibt viele Migrant*innen, die hier eine Ausbildung gemacht und Fachwissen erworben haben. Die verlassen Deutschland, weil sie hier einfach in eine Ecke gedrängt werden.  

Lale Akgün: Richtig.  

Hans Mörtter: Das ist schlimm.  

Lale Akgün: Nicht nur das, es ist kontraproduktiv, denn eins müssen sich auch Frau Merkel, Frau Böhmer und viele andere klar machen: Die Desintegrierten werden Deutschland nicht verlassen. Wohin sollen denn? Die haben keine Perspektive.

 

"Gott und der Mensch sind ganz nah beieinander“

 

Hans Mörtter: Das eigentliche Problem liegt nicht bei den Deutsch-Türken, das haben wir längst in eine Normalität hinein gelebt, aber es ist die alte Geschichte von arm und reich, die Geschichte, die auch Mohammed, den Propheten, umgetrieben hat. Die Frage der Gerechtigkeit und des Miteinanders nimmt auch im jüdischen und im christlichen Glauben eine wichtige Rolle ein. Da hakt es in unserem Land ganz gewaltig. Das schieben wir auf die türkischen Migranten*innen: „Die sind eigentlich schuld. An denen müssen wir arbeiten.“ Aber die sind nicht das Grundproblem unseres Landes.  

Lale Akgün: Ich bin zur Zeit mit meinem neuen Buch viel auf Lesereise. Kürzlich stand eine junge Frau auf und sagte: „Uns wird permanent die Migrations- und Integrationsproblematik aufgetischt, um von dem wirklichen Problem, von arm und reich, von Menschen, die privilegiert und deprivilegiert sind, abzulenken.“ Ich habe ihr dringend geraten, in eine Partei einzutreten und aktiv Politik zu machen. Denn sie hat das richtig erkannt, wir halten uns an Nebenkriegsschauplätzen auf, anstatt das eigentliche Problem der sozialen Ungerechtigkeit anzugehen.  

Hans Mörtter: Um noch einmal auf die Frage der Gerechtigkeit und des Miteinanders einzugehen, die alle Religionen gleichermaßen beschäftigt, du trittst für eine Reformierung des Islam ein. Und ich halte eine ständige Reformierung des Protestantismus ebenfalls für notwendig.  

Lale Akgün: Ich finde, kein Tag im Jahr eignet sich besser dazu, um über Reformen im Islam zu reden, als der heutige Reformationstag. Der Islam müsste als ersten Schritt die allergrößte Reform nachholen, die bei euch Martin Luther schon gemacht hat, indem er zu der Erkenntnis kam, dass die Bibel vom Volk gelesen werden muss. Deshalb hat er die Bibel erstmalig ins Deutsche übersetzt. Der Koran muss den Leuten in ihren Muttersprachen zur Verfügung gestellt werden. Ich muss doch verstehen, was ich lese, um mich mit dem Koran auseinandersetzen zu können, gerade weil der Islam eine so intime Religion ist, die sagt: „Gott und der Mensch sind ganz nah beieinander und gehören zusammen.“  

Hans Mörtter: Wer kein Arabisch kann, kann den Koran nicht verstehen.  

Lale Akgün: Nicht nur das, wir müssen auch dafür sorgen, dass in den muslimischen Ländern die Analphabetenquote sinkt, gerade bei Frauen. Ich muss erst mal lesen lernen, bevor ich den Koran lesen kann. Dann finde ich es ganz wichtig, dass wir wirklich kritischen Stimmen Raum geben. „Kritische Stimmen“ heißt nicht die sogenannten Islamkritiker, die den Islam nur verurteilen. Auch wenn ich Kritik übe, bin ich eine überzeugte Muslimin, ich sage das noch mal ganz deutlich, aber der Islam ist erstarrt und wir müssen einen unverstellten Blick auf ihn werfen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir kritischen Muslime und Musliminnen den Mund aufmachen und sagen, wo es langgeht. Es wäre vielleicht einfacher, mit dem Islam zu brechen. Aber ich finde den Islam viel zu schade, um ihn diesen ewig Gestrigen zu überlassen. Ich habe eine Mitgestalterin für mein übernächstes Buch zum Thema „Moderner Islam“, das ist die ehemalige Dekanin der theologischen Fakultät Ankara. Die meint, dass wir alles auf den Prüfstand stellen müssen, auch die fünf Gebote des Islam. Wir müssen über alles noch einmal reden und alles im Sinne von „das hat man immer schon so gemacht“ in Frage stellen. Dann können wir fragen: „Was bleibt eigentlich als Wert und als Glaube? Was ist wichtig, und was ist nur dazu erfunden?“ Nehmen wir die Hadithe, das sind die Aussprüche des Propheten. Heute wissen wir, dass 90 Prozent davon erfunden sind. Der Prophet hätte ja 200 Jahre leben müssen, damit die heutigen Hadithenbücher hätten geschrieben werden können... Weiterhin muss man sich den Koran anschauen: Wo sind die mekkanischen Suren, wo sind die Medina-Suren.


Was ist heute noch gültig, weil es an den Menschen gerichtet ist, an den einfachen Gläubigen, und welche Suren richten sich an den Propheten, die eigentlich nur die Situation von damals beschreiben? Haben die für uns heute noch Gültigkeit? Wenn man da tief einsteigt, kommt man zu den Quellen des Glaubens und der Religion, und siehe da, dann kommt das Eigentliche hervor, was den Menschen Kraft gibt, was mir die Möglichkeit gibt, meinen Alltag zu gestalten und mir Sinn zu geben. Denn das, was mir die Leute von den Moscheevereinen predigen, gibt meinem Leben keinen Sinn.  

Hans Mörtter: Nein, und deswegen bist du auch so eine starke Kritikerin des Islamrats. Das ist ein Binnendialog, der nicht weiterführt. Ich finde diesen reformatorischen Aspekt einfach spannend, der für den Protestantismus und die Islamwissenschaften gleichermaßen notwendig ist. Wir müssen leider zum Schluss kommen: Deine Tante Semra wusste schon ganz früh, dass du keine Politikerin, sondern eine Kosmopolitin bist. Du passt in keine Schublade, dir ist Enge zuwider, du denkst weit und weit nach vorne für unser Land und für ein Europa, das erst im Begriff ist, zu werden.  

Lale Akgün: Aber das ist das Zukunftsthema. Ich bin eine ganz überzeugte Europäerin, und es ist schade, dass ich das vielleicht nicht mehr miterlebe, aber ich habe die Vision, dass wir in 50 bis 100 Jahren die heutigen Nationalgrenzen überwunden haben werden. Wir werden Regionen haben in einem vereinten Europa, ein Europa der Regionen Hier wird die Region Rheinland sein, mit Teilen Frankreichs und der Benelux-Länder. In der Türkei und Griechenland wird es die Ägäis-Region geben und es werden überall vielversprechende Zusammengehörigkeiten entstehen. Ich wünschte wirklich, ich könnte noch 100 Jahre leben, um das noch mitzuerleben.  

Hans Mörtter: Wir kriegen wenigstens ein Stück davon mit, und tragen unseren Teil dazu bei. Lale, ich freue mich riesig, dass es dich gibt. Danke.  

Lale Akgün: Ebenso!