Direkt zum Inhalt

Seenotrettung ist unverzichtbar - Teil 1

Rettungsschiff Iuventa / Foto: Moritz Richter
Rettungsschiff Iuventa / Foto: Moritz Richter

Die große Zahl von afrikanischen Flüchtlingen, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken, haben Pfarrer Hans Mörtter von Anfang an bewegt. Er hat dies immer wieder in Gottesdiensten und Aktionen thematisiert. Da die staatlichen Institutionen der Masse der Flüchtenden nicht gerecht werden konnten, haben sich immer wieder NGOs eingeschaltet und sind mit ihren Booten ausgelaufen, um nach Booten in Seenot Ausschau zu halten. Lebensrettung auf See ist gesetzlich vorgeschrieben und auch von menschlicher Seite her eine Selbstverständlichkeit, wenn man dazu in der Lage ist. Die Boote und Mannschaften der NGOs erfüllen genau diese Voraussetzungen.

Doch etliche der Retter und Retterinnen wurden kriminalisiert, wie Elias Bierdel und Stefan Schmidt von der Cap Anamur im Jahr 2004, die erst 2010 frei gesprochen wurden. Andere folgten, wie Pia Klemp, die Kapitänin der Seawatch 3, und ihrer Crew, denen Haft und astronomische Geldstrafen drohten.

von
Helga Fitzner

Das rief Pfarrer Hans Mörtter erneut auf den Plan, der eine medien- und publikumswirksame Aktion in die Wege leitete. Hans Mörtter und Pia Klemp traten öffentlich in der Kölner Philharmonie auf, wo sich 2019 viele Künstler und Künstlerinnen zu einer Benefizveranstaltung einfanden. Wegen des großen Erfolges wurde „SOS – Save Our Souls“ in den Jahren 2020 und 2022 in jeweils anderer Besetzung wiederholt.

Dieses Interview entstand am 4. September 2019 vor dem ersten Event in der Kölner Philharmonie und Hans Mörtter geht darin näher auf seine Beweggründe und die allgemeine Sachlage ein. 

 

Bild entfernt.
Save Our Souls 2020 in der Kölner Philharmonie mit Hans Mörtter und Daniela Neuendorf / Foto: Simin Kianmehr

 

„Wir verlieren unsere Seelen, wenn wir das ertrinken zulassen“


Helga Fitzner: Herr Mörtter, was soll bei Veranstaltung SOS – Save Our Souls genau geschehen?

Hans Mörtter: In der Kölner Philharmonie geht es grundsätzlich um die Solidarität mit der Seenotrettung. Wir wollen deutlich zeigen: „Wir sind hier! Wir sind anwesend! Wir spenden nicht nur, wir sind leibhaftig da und stehen für die Rettung von Menschen ein, die vom Ertrinken bedroht sind“. Das ist ein politisches Signal in die Gesellschaft hinein und nach Berlin zur Bundesregierung.

Helga Fitzner: Aber die Seenotrettung ist doch angeblich kriminell.

Hans Mörtter: Sterben lassen, ist kriminell. Man darf laut internationalem Seerecht keinen Menschen bewusst ertrinken lassen. Wenn ich jemanden in Seenot sehe, muss ich retten, sonst werde ich angeklagt. Es ist ein Verbrechen, das zu unterlassen. Das heißt ganz klar: Unsere Regierung, unser Europa, begeht ein Verbrechen, wenn es Menschen bewusst ertrinken lässt. Wenn wir das am 3. Oktober 2019 thematisieren, ist es mir nicht so wichtig, hohen Eintritt zu verlangen. Es gibt Leute, die sagen, dass die 15 Euro pro Karte zu wenig sind, aber an der Stelle geht es erst einmal nicht ums Geld, sondern um die praktizierte Solidarität. Die angeklagte Kapitänin Pia Klemp, die stellvertretend für viele Seenotretter:innen auf der Bühne stehen wird, soll merken, dass sie nicht alleine ist. Bei Sea Watch gehen viele Spenden ein, das ist sehr wichtig, aber es ist eine andere Energie, wenn etwas über ein Bankkonto kommt, als wenn Menschen tatsächlich anwesend sind. Wir haben richtig tolle Künstler und Künstlerinnen, die für sie auftreten, sich zu ihr bekennen, sich mit ihr die Bühne teilen und bis zu 2.200 Menschen im Publikum, die mit ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Präsenz zeigen: „Pia Klemp, du und deine Leute, ihr seid nicht allein! Wir stehen an eurer Seite, stärken euch den Rücken“. Das wollen wir sie spüren und sehen lassen. Die dort anwesenden Menschen stehen für Hunderttausende im Land, das ist das Besondere an dieser Geschichte. Es ist keine politische Kundgebung, keine richtige Benefiz-Veranstaltung und viel mehr als eine Solidaritätsgeschichte.

Helga Fitzner: Ist die Anklage nicht völlig überzogen?

Hans Mörtter: Die Pia steht mit zehn ihrer Crew-Mitglieder in Italien wegen angeblicher Schlepperei unter Anklage und wird mit 20 Jahren Haft und einer Strafe von 15.000 Euro pro gerettetem Menschenleben bedroht, Gesamtsumme um die 210 Millionen Euro, und die stehen einem riesigen juristischen Apparat gegenüber. Sie müssen selber alles aufbringen, um dagegenzuhalten. Es geht um internationales Seerecht, um italienisches Recht usw.

Helga Fitzner: Das ist nicht das erste Mal, dass Sie sich für solche „Kriminellen“ einsetzen.

Hans Mörtter: Ich habe das vor schon 10 Jahren bei Elias Bierdel erlebt, als der mit der Cap Anamur Leben rettete und unter Anklage gestellt wurde, das hat ihn sehr mitgenommen. Das ging über einen langen Zeitraum hin und her und war sehr strapaziös. Das frisst auch an der Seele. So eine breite Solidarität hat der Elias damals nicht erlebt. Ich freue mich auch darüber, dass wir diesen klaren Titel haben: SOS – Save Our Souls. Im Augenblick verlieren wir unsere Seelen, wenn wir das Ertrinken zulassen. Für mich sind das Helden und Heldinnen, die so etwas machen. Man fährt ja nicht so ohne Weiteres mit einem relativ kleinen Schiff im Meer herum und setzt sich dann in kleine Boote, um die Leute aus dem Wasser zu fischen oder zu sehen, wie sie vor den eigenen Augen ertrinken.

Helga Fitzner: Was ist passiert, dass das, was Recht ist, keins mehr ist?

Hans Mörtter: Dahinter steckt eine große europäische Angst. Dann die fehlgeleitete Einschätzung, dass unsere Lebensart es wert ist, dass andere dafür leiden oder sterben, dass sie in Armut leben und den Klimaveränderungen ausgesetzt sind, dass sie kein Recht auf sauberes Wasser haben usw. Wir sind zu einem großen Teil die Verursacher der Not in Afrika, z. B. durch Waffenexporte dorthin. Die haben ja Gründe, dass sie flüchten. Die Seenotretter:innen werden bezichtigt, dass sich durch ihre Einsätze noch mehr Menschen aufs Mittelmeer wagen…

Helga Fitzner: … stellen wir uns einfach mal vor, dass es möglich wäre, dass tatsächlich nicht ein einziger Bootsflüchtling gerettet werden könnte, sie also dem sicheren Tod ausgesetzt wären, würden die es trotzdem wagen?

Hans Mörtter: Die würden trotzdem kommen. Das haben sie ja immer gemacht. Die Italiener haben 2013 mit Mare nostrum angefangen, die Flüchtlinge zu retten und versuchten auch, die wirklichen Schlepper zu erwischen. Leider wurde die Aktion nach einem Jahr abgesetzt. Die Italiener merkten, dass die anderen europäischen Länder sie im Stich ließen und sie das nicht mehr allein bewerkstelligen konnten, inklusive der Aufnahme der Menschen.

Helga Fitzner: Die Flüchtlinge sind trotzdem gekommen.

Hans Mörtter: Wenn jemand sich in extremer Not und Ausweglosigkeit befindet und ihm klar ist, dass er keine Zukunft hat, weil in seinem Land Krieg, Verfolgung, Folter oder Dürre herrscht, dann flieht er, weil er für sich und seine Familie eine Zukunft sucht. Die wollen nicht sterben, die wollen leben und riskieren dafür ihr Leben. Es sterben schon Tausende auf dem Weg durch die Wüste, bevor sie noch am Meer angekommen sind, weil sie verdursten, Menschenhändlern, Organhändlern zum Opfer fallen. Sklaverei ist wieder im Vormarsch. Schon lange vor der Mittelmeerküste ereignen sich bereits Tragödien. Die Bootsfahrt ist der letzte Albtraum von vielen. Der Seenotrettung wird unterstellt, dass sie zu einer Massenflucht anregt und das entspricht nicht der Realität: Das ist gelogen!

Helga Fitzner: Wie viele NGO Seenotrettungsschiffe sind eigentlich unterwegs?

Hans Mörtter: Ich weiß es nicht. Es gibt wohl um die 12 Schiffe, die sich dort befinden, aber erst gestern wurde wieder eins beschlagnahmt.

Helga Fitzner: Zwölf Schiffe im riesigen Mittelmeer?

Hans Mörtter: Es geht um eine bestimmte Zone vor dem libyschen Küstenraum. Das ist die kürzeste Passage, alles andere ist noch viel gefährlicher. Doch irgendwann werden die Menschen auf die gefährlicheren Routen ausweichen müssen, dann werden wir noch mehr Ertrunkene haben.

Helga Fitzner: Wie kann man denn die Fluchtursachen bekämpfen?

Hans Mörtter: Fluchtursachen kann ich nur bekämpfen, wenn ich dafür sorge, dass Menschen in ihren Ländern, in ihrem Kontext eine Chance auf Zukunft haben: Wasser, Nahrung, Bildung, Arbeit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit… Das alles ist vielen verloren gegangen, weil wir ihre Rohstoffe für unsere Smartphones und andere Technik brauchen. Auch ihr Land wird mehr und mehr unter internationalen Konzernen aufgeteilt.

Helga Fitzner: Man müsste den Afrikanern und Afrikanerinnen nur die Chance lassen, sich selbst zu organisieren. 

Hans Mörtter: Es gibt in Afrika ungeheuer viele gebildete und intelligente Menschen, Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Wirtschaftswissenschaftler: Da ist ein Riesenpotential an Männern und Frauen, mit denen man zusammenarbeiten könnte, die auch selber für ihr Land sorgen könnten und uns gar nicht brauchen. Wir müssen sie nur in Ruhe lassen oder sie an der Stelle stärken, an der sie unsere Unterstützung brauchen. Wir müssten ein Interesse daran haben, dass es Afrika gut geht und es nicht darauf reduzieren, billiger Rohstofflieferant oder Absatzmarkt für uns zu sein und sie in sklavenähnlicher Abhängigkeit von uns zu halten. Aus dieser von uns geschaffenen Not fliehen die Menschen, und wohin: zu uns.

Helga Fitzner: Aha!? Aber die Seenotretter:innen sind doch alles schuld!?

Hans Mörtter: Das wird irgendwie behauptet. Da sieht man mal, wie billig das ist. Mir hat mal jemand gesagt, dass die Flüchtlinge selber schuld seien, die wüssten doch, in welche Gefahr sie sich begäben: „Die sind verantwortlich für ihr eigenes Ertrinken. Jeder Mensch ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich“. Damit kann man jegliche Mitverantwortung bequem zurückweisen.

Helga Fitzner: Doch jede:r Gerettete ist der Beweis dafür, dass die unrecht haben und jede:r Gerettete ist auch eine Anklage: Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du mich ertrinken lassen. Wenn man bedenkt, dass allein Pia Klemp und ihre Crews 14.000 Menschen gerettet haben…

Hans Mörtter: … die wären sonst tot. Jeder dieser Menschen hat einen Vornamen, einen Nachnamen, eine Mutter, eine Familie. Er/sie hat Sehnsucht, Liebe und Hoffnung. Manchmal sind wir uns gar nicht bewusst, wie kostbar ein einzelner Mensch ist. Wir reden immer über Zahlen, wenn z. B. 358 Menschen ertrunken sind. Das sind 358 Individuen.

Helga Fitzner: Viele schätzen sie nicht, weil sie sie für traumatisierte Hungerleider halten.

Hans Mörtter: Es sind Menschen!

Ende Teil 1...