Direkt zum Inhalt

„Ganz oben hat die Kostbarkeit des Lebens zu stehen“ - Teil 2

Rettungsschiff iuventa / Foto: Friedhold Ulonska
Rettungsschiff iuventa / Foto: Friedhold Ulonska

Dieses Interview entstand 2019 vor dem ersten Benefizkonzert "Save Our Souls" (SOS) in der Kölner Philharmonie, Hans Mörtter geht darin näher auf seine Beweggründe und die allgemeine Sachlage ein. 
Fortsetzung von Teil 1
 

Helga Fitzner: Pia Klemp beschreibt in ihrem Roman „Lass uns mit den Toten tanzen“,  dass die Protagonistin gar nicht weiß, ob sie die von ihr Geretteten überhaupt mögen würde.

Hans Mörtter: Muss sie ja nicht. Sie muss die Leute nicht mögen, hier geht es erst einmal um Rettung. Was dann anschließend ist, steht auf einem anderen Blatt. Ob sie überhaupt die Berechtigung für Asyl erfüllen, kommt danach. Die Retter wissen nicht, ob ein Geretteter in irgendeinem europäischen Land eine Zukunft haben wird oder was sonst mit ihm ist.

Helga Fitzner: Wenn man sich vorstellt, welche enorme Verantwortung die Seenotretter:innen auf sich nehmen, fällt das schon schwer, weil das einfach richtig groß ist. Doch wenn man es mal verkleinert und mit der Verantwortung pflegender Angehöriger oder alleinerziehender Elternteile vergleicht, kommt man dem vielleicht näher. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie sich entschieden, Notfallseelsorger zu werden? Sie haben damals gesagt, es machen zu müssen, weil Sie in der Lage sind, es tun zu können.

Hans Mörtter: Da war damals ein Moment erreicht, wo ich tätig werden musste. Notfallseelsorge und Seenotrettung haben vielleicht ein paar Ähnlichkeiten. Ich erlebe seelisch Ertrinkende in ganz schlimmen oder bedrohlichen Situationen. Immer wenn da etwas gelungen ist, so anstrengend das auch gewesen sein mag, erfüllt das auch mit Glück. Auch wenn man total erschöpft ist und lieber mal schlafen möchte. Wenn ich es nicht machen würde, wüsste ich nicht, was für eine Bereicherung das ist. Denn die Begegnung mit dem Existentiellen, dem Sterben, der Hoffnung auf eine Zukunft, das Leben wieder zu finden, macht einen innerlich reicher. Ich glaube schon, dass ich dadurch stärker und souveräner geworden bin und habe auch ganz viel für mich selbst gewonnen. Die eigene Persönlichkeitsentwicklung beschleunigt sich dadurch.

Helga Fitzner: Sie gehen davon aus, dass alle etwas tun könnten?

Hans Mörtter: Das versuche ich in der Kölner Philharmonie auch hinzubekommen: Wir sind viele und wir sind eine große Kraft. Und jetzt schaut jede:r von uns: Was kann ich denn tun? Dazu muss ich auf kein Schiff gehen, mich aber fragen: Was kann ich insgesamt dafür tun, dass sich Einstellungen in unserem Land ändern?
Ich habe Thomas Scheible aus der Südstadt zum Talkgottesdienst eingeladen. Der ist seit Jahren auf der Sea Watch unterwegs. Wann immer er Zeit hat, fährt er raus, sofern die Sea Watch 3 ablegen darf. Der ist Bootsführer, er fährt eines der kleineren Boote, und er hat Wahnsinniges gesehen, aber das spornt ihn eher an, er lässt sich da nicht klein kriegen. Jede:r Gerettete treibt ihn an, noch mehr zu retten. Es gibt sicher auch Leute, die das einmal gemacht haben, und dann erkennen, dass sie das nicht schaffen. Da ist jeder Mensch anders gestrickt. Es ist gut, wenn sich jede:r da engagiert, wo er/sie kann. Seenotrettung besteht nicht nur aus den Crews der Schiffe, sondern auch aus allen, die organisieren, spenden und sich für die Seenotrettung einsetzen, wie die Seebrücke, ohne auf den Schiffen mitzufahren. Die sind auch ein ganz wichtiges Rückgrat. Wenn ich mich engagieren will, muss ich schauen, was und wie viel ich verkraften kann, was ich kann und was nicht, und dementsprechend meinen Platz finden. Das muss keiner alleine tragen, aber ich kann Teil eines bedeutsamen Ganzen werden.

Helga Fitzner: Auch wenn ich in der Philharmonie für 18 Euro sitze.

Hans Mörtter: Genau. Das auch. In der Philharmonie dabei zu sein, ist auch eine Art von Seenotrettung.

Helga Fitzner: Wie kann es sein, dass diejenigen, die die Judikative und Exekutive inne haben, Gesetze erlassen oder befolgen, die internationalem Seerecht, Menschenrecht, jeglicher Ethik und jeglichem Humanismus widersprechen? Das sind gewählte Regierungen, das ist unsere EU, wir sind Friedensnobelpreisträger:innen, was ist da passiert?

Hans Mörtter: Darauf habe ich auch keine richtige Antwort, wie man so seine Seele verlieren kann. Wie kann man derart seelenlos Politik machen und dann immer Sachgründe vorschieben? Ganz oben hat die Kostbarkeit des Lebens zu stehen. Wenn man das von einem spirituellen Standpunkt aus sieht: Das Leben ist heilig! Das des Menschen und das des Baumes ebenfalls. Aber wir industrialisieren alles. Wir haben die Tiere industrialisiert, wir fischen die Meere leer mit riesigen Fabrikschiffen, wir verbrennen die Wälder, um Soja für Tierfutter oder anderes anzubauen, wir beuten die Bodenschätze aus. Es findet eine totale Industrialisierung des Planeten und unseres Menschseins statt und in diesem Rahmen scheint es egal zu sein, dass da im Mittelmeer Tausende von Menschen ertrinken. Die werden als Hindernisse gesehen. Es wird alles seinem industriellen Verwertungszweck und Nutzen untergeordnet und dadurch geht uns unser Menschsein verloren.

Helga Fitzner: Wenn wir das alles wissen und nichts tun, was macht das mit uns?

Hans Mörtter: Dann tragen wir die Verantwortung dafür mit. Eindeutig.

Helga Fitzner: Dann sind nicht nur alle Politiker:innen, alle Lobbyisten:innen, alle Anwälte:innen etc. verantwortlich, sondern auch diejenigen, die das widerstandslos geschehen…

Hans Mörtter: … jeder einzelne von uns. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns irgendwann unsere Kinder oder Enkelkinder fragen werden, warum wir damals geschwiegen haben. Warum habt ihr das alles zugelassen, warum habt ihr euch nicht gewehrt? So wie wir 1968er unsere Eltern gefragt haben, so werden unsere Nachkommen uns fragen. Und die werden gnadenlos fragen, weil das alles gnadenlos ist.

Helga Fitzner: Diejenigen, die die NGOs massiv an der Seenotrettung hindern, sind für den Tod vieler Menschen hauptverantwortlich. 

Hans Mörtter: Ich versuche da zu differenzieren. Für mich gibt es nicht DIE Wirtschaft, DIE EU, sondern die bestehen aus Individuen. Wo sind da Menschen, die bereit sind zu denken, zu reden und nach unserer Welt und unserem Miteinander zu fragen? Die gibt es auch. Das Bündnis der Mutigen, die bereit sind, nach anderen Wegen zu suchen. Dabei sollten nicht die finanziellen Mittel im Vordergrund stehen, sondern die Achtung vor dem Leben des Anderen, egal wo er auf dieser globalen Welt lebt. So wie wir in Europa leben, hat das Auswirkungen auf Afrika. Wir sind alle miteinander verbunden. Wie setzen wir das in ein Miteinander-Leben um in Liebe statt in Krieg?


Ende Teil 2...