Das Interview entstand 2019 vor dem ersten Benefizkonzert "Save Our Souls" (SOS) in der Kölner Philharmonie, Hans Mörtter geht darin näher auf seine Beweggründe und die allgemeine Sachlage ein.
Fortsetzung der Teile 1 und 2
Helga Fitzner: Welche Erwartungen haben Sie an die Veranstaltung SOS – Save Our Souls?
Hans Mörtter: Da bin ich offen. Ich will erst einmal einen Stein ins Wasser werfen, der dann Kreise zieht und sich verselbständigt. Wenn alle Plätze besetzt werden, dann sitzen im Publikum 2200 Menschen. Die bringen ja etwas mit. Die werden bewegt sein, die werden noch stärker verbunden sein und die werden in ihren Kreisen darüber reden. Das kann sich unwahrscheinlich vervielfältigen. Das wird auch durch die Social Media gehen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung mitbekommen wird, dass da ein Aufstand stattfindet, dass da wie bei Fridays for Future die Jugendlichen nicht nur sagen, dass sie die Klimapolitik geändert haben wollen, die fordern und erwarten das. Sie gehen auf die Straße, man kann sie sehen. Sie werden sichtbar und zeigen, dass sie da sind. Die Regierenden werden sich darauf einstellen müssen, dass wir als Bürgerinnen und Bürger ab jetzt immer da sind, wir werden mehr und mehr da sein und zwar unübersehbar und unüberhörbar. Das ist die neue Dimension, in der wir uns befinden. Wir reden nicht nur, wir lassen uns blicken und stehen für etwas ein. Füreinander, miteinander, Seite an Seite und das ist es, was uns Energie und Kraft verleiht. Wir sind nicht ohnmächtig, das ist der entscheidende Punkt. Wir wollen Pia Klemp und alle Seenotretter und Seenotretterinnen spüren lassen, dass sie getragen werden. Die sollen noch mal von ganz anderer Seite Unterstützung und Kraft geschenkt bekommen, um weiter agieren zu können. Das ist letztendlich auch eine Beauftragung durch uns. Das macht ihr auch für uns. Wenn Pia wieder auf ein Schiff gehen könnte, würden sie mit 100.000 Menschen im Rücken gehen. Vereint in diesem Bewusstsein. Ich glaube, sie würde ganz anders auf der Brücke stehen. Die Auswirkung dieser Veranstaltung wird hoffentlich viel komplexer und größer, als wir denken.
Helga Fitzner: Das ist ein kreativer und künstlerischer Ansatz.
Hans Mörtter: Ein Bekenntnis zum Leben auf hohem künstlerischen Niveau. Ich finde auch, dass ohne Kunst gar nichts mehr geht. Das wirkt manchmal besser als kluge Reden. Die Musik erreicht uns auf tiefere Art, sie steht fürs Echte, wie die Pia Klemp fürs Echte steht.
Helga Fitzner: Wo steht die Politik?
Hans Mörtter: Hm. Die Politik kann nur aufwachen.
Helga Fitzner: Die machen das nicht extra?
Hans Mörtter: Ja, die wissen, was im Mittelmeer passiert. Sie nehmen das in Kauf und erfüllen den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.
Helga Fitzner: Wie konnte es soweit kommen? Italien hat es versucht und wurde im Stich gelassen. In diesem Sommer haben so viele Leute in so vielen Kölner Restaurants gesessen und ließen es sich gut gehen. Das soll niemandem in Abrede gestellt werden und es ist sehr wichtig, dass man solche Momente hat, aber viele blenden die globalen Probleme des Planeten völlig aus und sonnen sich in einem Wohlstand, der durch den Zustand des Planeten durchaus gefährdet ist.
Hans Mörtter: Das ist die Angst davor, überfordert zu werden, wenn ich mir vollends bewusst werde, was in der Welt passiert. Dann schaltet man halt ab. Das ist ein Rückzug aus Angst vor dem Schmerz und der Trauer. Wenn ich den Schmerz aber nicht zulasse, kann ich auch das Glück nicht empfinden und verliere dadurch eine gewaltige Lebensdimension. Wenn ich etwas aus meinem Leben ausblende und es mir reicht, im Restaurant zu sitzen und Smalltalk zu betreiben, dann geht mir auch etwas verloren. Das reicht aber nicht, das ist zu billig.
Helga Fitzner: Aber in dem Moment, in dem ich anerkenne, dass da ein Problem ist, bin ich auch gezwungen zu handeln. Da muss ich dann schon mal aus meiner Komfortzone heraus.
Hans Mörtter: Aber gleichzeitig bekomme ich dadurch einen Mehrgewinn an Leben. Ich lerne Neues, ich lerne neue Menschen kennen, wir bewähren uns miteinander. Wir scheitern und wir siegen. Und wir tun es gemeinsam. Ich sitze nicht nur herum und mache Smalltalk. Für mich gehört zum Leben auch das Engagement.
Helga Fitzner: Wie hat das bei Ihnen angefangen?
Hans Mörtter: Das nimmt man sich nicht vor. Ich bin da hereingerutscht. Ich war als Jugendlicher ständig Klassensprecher, Schülersprecher, Vertrauensschüler usw. Da habe ich den Aufstand gelernt, für andere, weil ich deren Sprecher war. Ich habe den Kopf hingehalten, während die anderen geschwiegen haben. Dadurch habe ich aber früh gelernt, dass Schweigen falsch ist. Das war ein frühes Hineinwachsen in den Widerstand, aber auch ins Menschsein. Das Recht eines jeden Menschen auf Zukunft, auf Chancen und Raum einzufordern.
Helga Fitzner: Muss das anarchisch oder radikal sein?
Hans Mörtter: Überhaupt nicht, aber manchmal gehört auch das dazu, wenn kein Kompromiss möglich ist.
Helga Fitzner: Ist das dann nicht eher Konsequenz als Anarchie?
Hans Mörtter: Ja. Konsequenz. Und sich nicht beirren zu lassen, nicht einzuknicken. Standhalten und dran bleiben, wenn etwas nicht gelingt. Dann suche ich mir Verbündete, mit denen es gelingt. Früher habe ich manchmal geglaubt, dass ich die Dampfwalze bin und alleine da durch muss. In den Nach-1968ern war das nötig, weil es sich um völlig erstarrte Systeme handelte. Heute mache ich das mit Verbündeten und tue mein Bestes, klug zu handeln, Perspektiven und Strategien zu entwickeln, zu organisieren. Das bekomme ich mit Anarchie nicht hin. Ich muss lernen, meinen Platz zu finden und einzunehmen, das Leben auf diesem Planeten zu bewahren. Man muss dazu nicht auf ein Schiff, man kann Baumretter werden oder Insektenhotelbesitzerin.
Helga Fitzner: Wie haben Sie Pia Klemp kennen gelernt?
Hans Mörtter: Bei einer Veranstaltung „Ein Europa für alle“. Da war ich im Organisationsteam und habe mich backstage mit ihr unterhalten können und später noch mal ausführlicher hier in der Südstadt. Die Chemie stimmt, wir verstehen uns, ohne viel erklären zu müssen.
Helga Fitzner: Glauben Sie, dass sich in für uns noch erlebbarer Zeit etwas verbessern wird?
Hans Mörtter: Es wird sich auf jeden Fall etwas ändern, zum Guten oder zum Schlechten. Noch haben wir es in der Hand.
Helga Fitzner: Wenn wir den Planeten nicht behüten, gehen wir dann mit ihm unter?
Hans Mörtter: Ganz genau. (Eher scherzhaft) Dann fliegt uns der Planet um die Ohren. – Für mich ist ein ganz wesentlicher Aspekt, auf der ganzen Welt die Bildung zu fördern. Wir müssen nicht Waffenmunition, sondern die Bildung explodieren lassen. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die kaum eine Chance haben, weil sie in Milieus leben, in denen Bildung keinen Wert hat und nicht gefördert wird. Auch das sind kostbare Menschen, die wir nicht aufgeben dürfen. Die Aufgaben sind vielfältig. Manchmal hilft es in der unmittelbaren Umgebung Veränderungen zu schaffen. Ich habe einen Freund, Arne Thies, der eine Möglichkeit entwickelt hat, wie Dörfer ihre eigenen Brunnen in Benin bauen können. Und zwar selbständig und mit dem, was die Ärmsten mit ihrer Hände Arbeit leisten können und an Rohmaterial zur Verfügung haben. Wenn sie das gelernt haben, übernehmen sie Verantwortung dafür und geben das weiter. Wenn Dörfer sauberes Wasser haben, leben sie gesünder, können etwas Ackerbau betreiben und somit fällt eine Fluchtursache schon mal weg.
Helga Fitzner: Sie sagten vorhin, dass es nicht DIE Politiker und DIE EU gibt. Sie stehen mit vielen im Dialog.
Hans Mörtter: Auch da hängt das vom Individuum ab. Nehmen wir Horst Seehofer, der früher ein massiver Gegner war und sich nun zögerlich dafür einsetzt, dass die geretteten Flüchtlinge in Europa aufgenommen und verteilt werden. Mit dem ist eindeutig was passiert. Ich glaube schon, dass die ständigen Proteste und die entsprechende Berichterstattung damit zu tun haben. Vielleicht wird er ja als Politiker eines Tages eine Art Rechenschaft ablegen, wenn auch nur vor sich selbst, mehr noch als Privatpersonen. Ich glaube insgesamt, dass die Botschaft der Aktivisten und Aktivistinnen durchaus in der Politik angekommen ist.
Helga Fitzner: Jetzt wollen wir das Interview aber nicht wirklich mit Horst Seehofer enden lassen?
Hans Mörtter: Irgendwie schon. Wir müssen ins Boot holen, wen immer wir kriegen können, dass gilt im realen wie im übertragenen Sinne. Es ist an der Zeit, jenseits der Klischees zu denken, innerhalb derer wir uns bisher bewegt haben. Und zu handeln. Ich bin nicht pessimistisch eingestellt.
Helga Fitzner: In diesem Sinne ist das Rettungsboot wenigstens halb voll. Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Helga Fitzner am 4. September 2019.
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